Hans-Georg Gadamer: Kunstverein Bad Tölz 1987

Die Malerei unseres Jahrhunderts ist mit dem  Verlust einer gemeinsamen  "Sage" dem
"Mythos"   humanistisch-christlicher  Prägung   belastet. Dieser gemeinsame Bildinhalt war ehedem zugleich ein Bildgerüst, und so stellte für die Bildwerdung der Rahmen dieses Gerüstes dem Künstler seine Aufgabe. Jetzt ist ihm eine Konstruktionsaufgabe   radikalerer   Art   gestellt. Bereits in dem Bildersturm der Reformationszeit bahnt sich das an, und an den großen Traditionsthemen von Religion und Herrschaft vorbei hat das zu neuen Bildinhalten geführt, zum Stilleben und zur Landschaft. Beide liefern auf ihre Weise auch   weiterhin   ein   Baugerüst.   Das  Stilleben bietet dieses Gerüst im vorgängigen Aufbau des Modells. Die Landschaft wird, in einem ähnlichen Aufbau eines Modells, auf "Motive" abgesucht. "Motiv" wird im 19. Jahrhundert ein neuer Sprachgebrauch für die Freiluft-Malerei. Als ob das Wort es heraufbeschworen hätte, dringt mit dieser Wendung   zur  Freiluft-Malerei   die   Luft und die Farbenspiele des Lichtes in die Bildwelt ein und lösen das Gegenständliche bis zum Verflimmern nahezu auf. Das Ding und seine eigene Farbigkeit verschwindet hinter der Luft und dem Füllhorn ihrer Farben. Der Zauber dieser neuen Farbsinnlichkeit hat das ausgehende 19. Jahrhundert gebannt.
Maler unseres Jahrhunderts stehen indes noch unter einem anderen Stern. Seit sich um die Jahrhundertwende das Werk Paul Cezannes durchsetzte, hat sich der Bildaufbau in eine freie Konstruktionsaufgabe gewandelt, die mit den  bloßen Mitteln der Farbe die eigentliche
"Realisation" zustandebringen soll, ohne daß irgendeine Vorzeichnung oder ein anderes Gerüst dem Wagnis der Farbe einen Halt bietet. Damit steht Cezanne als das eigentliche Gestirn über dem neuen Jahrhundert. Dies Gestirn hat alle die konstruktiven Kühnheiten der Folgezeit ausgelöst, die Fauves, die kubistische Revolution, Braque und Picasso, die ganze Bewegung des Expressionismus. Damit wurde all das eröffnet, was in allen seinen Graden konstruktive Kraft verlangt, ob man das nun neue Sachlichkeit, Sur-Realismus, abstrakte oder ungegenständliche Malerei oder gar Anti-Kunst nannte.
Es ist also eine veränderte Grundsituation, die mit dem konstruktiven Bildaufbau eingetreten ist, und das muß man bei jedem Maler in unserem Jahrhundert im Auge behalten, wenn man den Werdegang und die Selbstfindung eines Künstlers in unserer Zeit richtig sehen will. Gewiß hat es immer schon eine Grundforderung an die Malerei gegeben, daß das Kunstwerk einen Bildaufbau verlangt. Aber nachdem der inhaltliche ikonographische Anhalt zurückgetreten ist, beginnt dieser Aufbau des Bildes mit der sogenannten Motivwahl oder mit freier Konstruktion. Das stellt den Künstler unseres Jahrhunderts vor eine Wahl, in der alles Beliebige möglich ist, und damit vor die besondere Aufgabe,   aus   der   Vielfalt   des   unbeschränkten Experimentierens zu so etwas wie einer Selbstfindung zu gelangen. Wie  in  anderen  Kunstgattungen, der Musik, der Architektur, der Dichtkunst ohne Reim- und Versmaß, der Erzählung ohne Held und Handlung, so ist dem bildenden Künstler unserer Zeit eine fast grenzenlose Freiheit eingeräumt. Das traf die junge Generation besonders,  die   in   der  Malerei   und   Bildkunst nach der nationalsozialistischen Entartung und der Unterdrückung der "entarteten Kunst" immer neue Anfänge zu wagen genötigt war.
Blickt man auf das Werk des Malers Dieter Stöver zurück, so stellt es sich wie eine lange Selbstschulung im konstruktiven Sehen dar. Am Ende hat ihn das zu der Landschaft geführt, in der er sich selbst zu finden gewußt hatte, als der Tod ihn abberief. Aber was heißt hier Landschaft?   Wie   sah   dieser   Maler   Landschaft? Gewiß nicht so, wie die Natur sich in Bildern darbietet und in malerischen Motiven, sondern so, daß  konstruktive   und  abstrakte  Strukturen aufgedeckt werden und zum Sprechen kommen. Sie    bilden    nicht   eine    Landschaft,   sondern werden  aus vorgegebener Landschaft herausgelesen. So mag den geborenen Oldenburger seine Heimatprägung, die Nähe der Strände und  der  Dünen   und  dahinter die Weite  des flachen   Landes  bei  seinen   Leseversuchen   mit bestimmt  haben.  Etwas  davon   meint man  zu spüren, wenn der in Bayern ansässige Maler dort seine  schöpferischen   Leseversuche  unternahm. So hat er von seinem ländlichen Wohnsitz  aus, zuerst  nordwärts von  München, aus Äckern, Weiden, Buschwerk und Baumkulissen eine Runenschrift herauszulesen begonnen und in Furchen, Zäunen und Hecken, in Wegen und in Wagenspuren Texte entziffert.  Es war wie eine geheime Geometrie, aus der er die Taktschläge der Einsamkeit heraushörte.
Dann hat es ihn nach Italien gezogen, aber nicht so sehr in das große Kunstland, das jeden entzückt, sondern weil dies ein Land war, in dem keine wogenden Wälder die Höhen und die Hänge und die in endlosem Grün prangenden Wiesen  einen förmlich einbettet. Hier ist
vielmehr das Ganze des Landes, die Hänge und die Halden, die Weinberge und die Olivenhaine zur Geometrie geworden. Natürlich ist auch diese Geometrie des Landes zu einem guten Teile ein Zeugnis menschlicher Kulturarbeit. Es war ja die Abholzung, die ehedem die klaren Konturen, Proportionen und Figurationen überhaupt erst hervorgetrieben hat. Aber sie waren in die klaren Berglinien wie eingepaßt. Das fand er vor allem in der Toscana und auf Sardinien auch noch die riesigen Kurven der langen Meeresstrände. All das hatte er gesehen, in einem konstruktiven Sehen, durch das sich die Malerei von der impressionistischen Kunst längst abgewendet hatte. Die Entdeckung der Luft, als der Träger und der Verteiler des Lichtes im Bildraum, war nicht mehr seine Sache. Cezanne und seine Folgen hatten gesiegt. Er gab der Bildfläche ihr abstraktes Eigenrecht, und wie zur Warnung und wie aus Protest gegen jede bloße Abbildlichkeit, hat Stöver sogar eine Zeitlang einem Verfahren Folge geleistet, das die eigene Bildkonstruktion wie bloße Extrapolation von Postkarten darbot. Später ging er noch einen Schritt weiter, indem er auch auf dieses künstliche Baugerüst ganz verzichtete. Wissend oder nicht, befolgte er Leonardos Wink, daß die Entzifferung einer weißen Mauer eine unausschöpfliche Botschaft enthält. Er folgte dieser Empfehlung, indem er alte, fleckige, löcherige Jutesäcke kaufte und aus Ihnen die Einladung empfing, sie zum Bilde zu ergänzen und ihren Ungewissen Grund auszufüllen mit Bodenwellen, Bachläufen, mit Buschwerk und mit Wegrainen, oder womit immer. Auch jetzt sollte keine Luft, Atmosphäre oder Stimmung daraus aufsteigen. Wegzeichen und Wegweisungen weisen in eine andere Dimension der Tiefe.
Lassen Sie mich an einem Beispiel zeigen, wohin Wege weisen können. Es ist dieses Bild,
das von einem offenen Vordergrunde aus einen Weg zeigt, der oben am Horizont endet. Eine Landschaft? Man könnte gewiß sagen, daß das Bild, das einen solchen Weg darstellt, in die Landschaft hineinführt. Der Weg steigt in Kurven. Die Höhe verspricht, einen Blick freizugeben, aber wir sehen nicht, was es sein wird. Man kann sich da hineinfühlen. Wir teilen mit dem Weg Aufstieg und Erwartung und vielleicht auch etwas von dem Einsamkeitsgefühl, das den Weg begleitet. Gewiß, davon ist etwas da. Aber ist es eigentlich das, was dieses Bild uns sagt und worauf es eigentlich hinzeigt? Ist es nicht in einem ganz anderen, entschiedenerem und drängenderem Sinne ein Zeichen? Ist nicht das ganze Bild mehr ein Zeichen als ein Bild? Es ist doch in Wahrheit nichts von dem mühsamen Aufstieg des Wanderers und der ihm winkenden Ausblicke darin. Eher sieht der richtig, der den Weg als ein Zeichen sieht, der nicht in eine Landschaft führt, sondern eine Form, die wie die Formen der Berge sind, die von diesem Wege durchquert werden. Aber was ist denn an diesem Weg? Warum zieht er so machtvoll auf sich, gleich bei der ersten Begegnung, und immer wieder? Es ist wie eine Grundgebärde des Steigens und ein Zeigen nach oben, das uns nicht in eine Landschaft hineinzieht, sondern uns wie ein riesiges Fragezeichen anruft. So fand Stöver überall das Zeichenhafte, das er aus Äckern und Bodenwellen, aus Hecken und Zäunen heraussah, ob aus dem Strand der See, ob aus der bayerischen Kulturlandschaft oder aus der strengen Formensprache des Südens.
So ist auch diese Kunst ein Fragen und Antworten, ein Antworten, das Fragen weckt und nach neuen Antworten sucht. So geht der Weg dieses Bildes, auf das ich hinwies und dieser "Landschaften" sehr viel weiter als jede Antwort, die man aussprechen kann.
HANS-GEORG GADAMER